Kein tendenzieller Fall der Profitrate
Michael Seibel • (Last Update: 24.07.2018)
Dass menschliche Arbeit die einzige Quelle der Wertbildung ist, ist eine Vorstellung des 19. Jahrhunderts, die ihr Unwesen aber auch noch in der modernen Makroökonomie treibt.
Die klassische Vorstellung von Produktivitätssteigerung betrachtet allein den Arbeitsanteil, der ins Produkt eingeht. Eine Einheit Produkt wird in der Herstellung ebenso billiger, wenn die Lohnkosten pro Arbeitszeit sinken, wenn die Rohstoffkosten sinken oder wenn die anteiligen Kosten der Arbeitsmittel sinken. Insofern wäre außer von Arbeitsproduktivität von Materialproduktivität bei leistungsfähigeren Materialien oder von einer Produktivität der Arbeitsmittel z.B. leistungsfähigerer Hardware oder Software zu reden. Steigerung der Arbeitsproduktivität wird auch heute noch so verstanden, dass der Arbeitsanteil geringer wird, der in ein Produkt eingeht, ohne dass ein zusätzlicher Arbeitsmittel- oder Materialaufwand diesen Gewinn überkompensiert.
Es trifft zu, dass dabei der prozentuale Anteil des von Marx so genannten 'fixen Kapitals' (T+AM) gegenüber dem 'variablen Kapital' steigen würde. Dass damit die Profitrate sinken würde, trifft allerdings, wenn überhaupt, nur unter der Annahme zu, dass Arbeitskraft die alleinige Quelle des Profits ist und Mehrwert nur aus Lohnarbeit gezogen werden kann. Das Argument von Marx dafür war: Maschinen oder ihre Leistungen werden von Kapitalisten an Kapitalisten verkauft. Sollte dabei ein Kapitalist etwas gewinnen, ist dies der Verlust eines anderen Kapitalisten. Für die Kapitalisten in ihrer Gesamtheit kann durch Kauf und Verkauf von Maschinen und ihrer Leistungen kein neuer Wert, schon gar kein Mehrwert, gebildet werden. Kauf und Verkauf von fixem Kapital ist für Marx ein Nullsummenspiel. Mehrwert, so Marx, kann nur gebildet werden, weil Lohnarbeiter ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen und Lohnarbeit über das Maß an Gütern hinaus, was zu seiner eigenen Erhaltung notwendig ist, d.h. über seinen eigenen Wert hinaus Mehrwert schafft.
Das Argument ist weniger plausibel, als es den Zeitgenossen erschienen ist. Gesetzt, sämtliche Arbeitskraft würde von einem Leiharbeitsunternehmer aufgekauft, aber nicht eingesetzt, sondern an andere Unternehmer verliehen, die sie ihrerseits einsetzen. Arbeitskraft würde also nicht anders behandelt als Maschinerie beim Leasing. Ist dabei der Gewinn des einen Kapitalisten der Verlust des anderen? Doch wohl nicht. Der Leiharbeitsunternehmer müsste eine Autofabrik bauen, um mit den Arbeitern, die er dem Autoproduzenten ausleiht, dessen Wertschöpfung nachzuvollziehen, ein Stahlwerk, um die Gewinne des Stahlindustriellen zu machen, usw. Umgekehrt müssten Autobauer und Stahlfabrikant die Geschäftsprozesse des Leiharbeitsunternehmers bei sich implementieren, um dessen Gewinne zu machen. All das sind keine Nullsummenspiele, wie Marx meint. Die Maschine, die der eine Unternehmer dem anderen abkauft, nützt ihm so wenig wie der ausgeliehene Arbeiter außerhalb der passenden Wertschöpfungskette. Würde die von einem an den anderen Kapitalisten verkaufte Maschine von diesem nicht produktiv eingesetzt, würde sowenig Profit generiert, als wenn die gekaufte Arbeitskraft nicht produktiv eingesetzt würde.
Der Theoretiker darf sich aussuchen: Entweder betrachtet er die Maschinerie als wertbildend, die menschliche Arbeit ersetzt und die Produktivität der verbleibenden menschlichen Arbeit potenziert, oder er betrachtet sie als nicht wertbildend. Dann ist allerdings nicht einzusehen, warum die menschliche Arbeit, die durch Maschinenleistung ersetzt wird, jemals ihrerseits wertbildend gewesen sein sollte, als sie noch gebraucht wurde.
Nun ist für Marx allerdings die Arbeitskraft der Schlüssel für die Ingangsetzung des gesamten Produktionsprozesses und jeder Wertschöpfungskette, ganz egal, um wie viel residuale Arbeitskraft es sich noch handelt.
Angenommen, ein Hersteller würde sich, ein vorübergehendes Monopol auf eine Neuentwicklung ausnutzend, z.B. wegen eines entsprechenden Exportverbots weigern, einem Unternehmen Maschinerie der neuesten Generation zu verkaufen, und ihm statt dessen weniger produktive Maschinerie anbieten, so wäre nicht Arbeitskraft die entscheidende Schranke für die Teilnahme an kompetitivem Wettbewerb, sondern die Maschinerie. Und zum gleichen Ergebnis würde es auf der Ebene der Rohstoffe kommen, wenn z.B. ein Batteriehersteller keinen Zugang zu den Metallen der Seltenen Erden hätte.
Mehrwert entsteht durch den Einsatz aller Komponenten des jeweiligen Wertschöpfungsprozesses in diesem, egal um welche Komponenten es sich handelt. Keine darf fehlen oder falsch verwendet werden. Und die Wertschöpfung wird nicht in dem Maß geringer, in dem Arbeit in Wertschöpfungsprozessen nicht mehr benötigt wird. D.h. Mehrwert wird nicht aus Lohnarbeit bezogen, sondern aus vollständigen Wertschöpfungsketten, was deren Kenntnis, deren Aufbau und deren Management voraussetzt. Und genau da liegen die Jobs, die erhalten bleiben. Wo das nicht gegeben ist, lässt sich selbst aus der ausbeutbarsten Arbeitskraft kein Mehrwert erzeugen. D.h. aber: auch ein vollautomatischer Produktionsprozess würde Mehrwert erzeugen, selbst wenn kein einziger Arbeiter mehr am Band steht. Deshalb besagt die 'organische Zusammensetzung des Kapitals' aus fixem und variablem Kapital nicht mehr all zu viel über Mehrwert und Profit.43
Es fragt sich dann allerdings, ob es sinnvoll ist, weiterhin von Mehrwert zu reden, wenn man Mehrwert zunächst einmal wie Marx als den Wertanteil definiert, den der Arbeiter den von ihm erzeugten Produkten über den Wert seiner eigenen Arbeit hinaus zusetzt. Wenn man dabei bleiben möchte, von Mehrwert zu sprechen, bestünde Mehrwert aus dem zusätzlichen Wert, den die erzeugten Produkte im Produktionsprozess über die Summe der Werte der Komponenten ihrer Wertschöpfung hinaus erhalten. Ersichtlich falsch ist das marxistische Argument, dass die Maschine qua Abschreibungen nur den Wertteil an das Produkt übergibt, der bereits als vergegenständlichte Arbeit in ihr selbst steckt. Das ließe sich mit gleichem Recht vom Arbeiter selbst sagen. Aber nein, allein der Arbeiter ist für Marx darüber hinaus ausbeutbar und nur dadurch Mehrwerterzeuger. Warum dann aber nicht auch die Maschine? Der Wert, den sie hat, wenn man sie an der richtigen Stelle einsetzt, ist höher als der Wert aller Bestandteile, die ihre Herstellung, ihr Betrieb und ihre Wartung kosten. Es dürfte genau besehen schwierig sein, die Mehrwertbildung weiterhin als eine Funktion der Zeit zu verstehen, in der ein Arbeitsmittel eingesetzt wird.
An sich sollte es der Volkswirtschaft nicht all zu schwer fallen, menschliche Arbeit als das aufzufassen, was sie ist, nämlich als einen besonderen, keineswegs in jedem Abschnitt der Wertschöpfung notwendig anzutreffenden Faktor der Wertschöpfungsketten neben anderen wie der Maschinerie, den Algorithmen oder den Grundstoffen.
Vollbeschäftigung
Aus Sicht klassischer Volkswirte ist die gesamtwirtschaftliche Produktion eine Funktion von Kapitalstock und Arbeitsmenge. Dabei wird zunächst der Kapitalstock (Maschinen, Bauten und Infrastruktur) als konstant angenommen. Offensichtlich ist so das Bruttoinlandsprodukt direkt abhängig von der Arbeitsmenge, und ein Rückgang der Arbeitsmenge ist gleichbedeutend mit weniger Produktion.44 Wird im nächsten Schritt der Kapitalstock realistischerweise als variabel gesehen, ist neu darüber nachzudenken, ob die Größe des BIP weiterhin direkt von der Arbeitsmenge abhängt, die den dann variablen Kapitalstock bewegt. Immer dann, wenn der Produktivitätszuwachs höher ist als das Wirtschaftswachstum, verringert sich der betriebsnotwendige Arbeitsbedarf bei gleichzeitiger Zunahme des gesamtgesellschaftlichen Reichtums. In dieser Situation hat man kein Wohlstandsproblem, sondern ein Verteilungsproblem, weil die Reichtumsverteilung über Lohneinkommen Risse bekommt, wenn die Lohnsumme abnimmt.
Politik und Volkswirtschaft neigen dazu, dieser Sachlage aus dem Weg zu gehen. Vollbeschäftigung bleibt, ob noch zeitgemäß oder nicht, sozialpolitischer Idealzustand des gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozesses und wird volkswirtschaftlich zur Denknotwendigkeit hypostasiert. Wenn die Wahl besteht, das verfügbare Kapital entweder in Technologien zu investieren, die menschliche Arbeitskraft in hohem Maß einspart oder in weniger produktive Technik, dann ist die Wahl mikroökonomisch leicht. Die weitergehende Forderung, dann doch bitte soviel dieser neuen Technologie einzusetzen und das Wirtschaftswachstum so weit auszuweiten, dass dann doch wieder jeder, der Arbeit sucht auch Arbeit findet, droht, an der durch die verringerte Lohnsumme beschädigte Binnennachfrage zu scheitern, wie auf Dauer an der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen.
Damit direkt verbunden ist die Vorstellung, dass eine erfolgreiche Marktwirtschaft notwendigerweise eine Wachstumswirtschaft sein muss, weil angesichts des wettbewerbsbedingten Produktivitätszuwachses nur Wirtschaftswachstum Vollbeschäftigung sichert.
Die Insistenz der Politik auf Vollbeschäftigung ist nachvollziehbar, wenn die Verteilungsfrage nicht gestellt werden soll. Das erklärt wenigstens zum Teil den gebannten Blick der Ökonomen auf den Fetisch von Inflation und Arbeitslosigkeit als den beiden ökonomischen Todsünden, wie ihn der 'Misery-Index' beschreibt. Sie grenzt an Theorieverweigerung. Ist die Produktivität bestehender Wertschöpfungsketten gegeben, dann sind die bestimmenden Größen für des BIP das Kapitalangebot und vor allem die Konsumnachfrage und darüber hinaus die kulturellen Fähigkeiten zur Produktivitätssteigerung wie Bildung und Verkehrsformen und nicht einfach die Summe der geleisteten Arbeitsstunden.
Liquidität der Konsumnachfrage
Arbeitslosigkeit, die durch Produktivitätszuwachs bedingt ist, führt zu einer weiter ungleicheren Verteilung von Haushaltseinkommen, aber nicht per se zu einer geringeren Gesamtsumme des Volkseinkommens. Eine Maschinerie, die mit x Beschäftigten y Quanta Produkt erzeugt, schafft nicht mehr und nicht weniger Volkseinkommen, als eine Maschinerie, die das selbe Quantum mit nur x-Δx Beschäftigten erzeugt. Allerdings schafft die zweite Version Δx Arbeitslose ohne Einkommen, die eine Transferleistung benötigen.
Einmal davon abgesehen, in welchem Umfang ein Sozialsystem solche Transferleistungen bereitstellt, dürfte sich der Warenkorb, der gesamtgesellschaftlich konsumiert wird, dadurch ändern, dass die Kaufkraft gesellschaftlich von unten nach oben umverteilt wird. Von der Entlassung von Δx Beschäftigten profitieren die Haushalte der Kapitaleigentümer und der verbleibenden mit Planungs- und Steuerungsaufgaben betrauten höher qualifizierten Angestellten, also in einen Bereich hinein, in dem Vermögensbildung ohnehin leichter ist als in der unteren Hälfte der Einkommensbezieher.
Noch funktioniert in Deutschland die Bindung von Einkommen an Arbeit gut, da die Arbeitslosigkeit gering ist. Wenn die Automatisierung wesentlich voranschreitet und mit zunehmend weniger menschlicher Arbeitskraft mehr produziert wird, werden entsprechend mehr Menschen aus dem Produktionsprozess freigesetzt. Entweder entstehen parallel dazu neue Arbeitsplätze und geben den freigesetzten neue Erwerbsmöglichkeiten oder die Freigesetzten benötigen eine Erwerbsquelle, die nicht aus Lohnarbeit stammt. Für das Entstehen neuer Arbeitsplätze kann dann allerdings die fortschreitende Automatisierung gerade nicht, wie immer wieder behauptet wird, die Ursache sein, denn sie führt ja gerade zum Verzicht auf menschliche Arbeitskraft. Außerdem entzieht die Automatisierung, dann, wenn sie im Inland mit Personalabbau verbunden ist, dem Binnenmarkt Kaufkraft in Höhe der entfallenen Gehälter, dem die investiven Kosten der die Arbeit ersetzenden Technik und dessen Management und steigende Kapitalerträge gegenüberstehen, sowie ggf. sinkende oder zumindest weniger stark steigende Warenkosten am Markt. Wie dem auch sei bedarf es neuer Erwerbsquellen für die Freigesetzten, deren Arbeitskraft in der Produktion nicht mehr benötigt wird.
Wir würden an dieser Stelle einen erblühenden Dienstleistungsbereich erwarten dürfen, würde die inflationsbereinigte Kaufkraft, die in den Konsum geht, nicht dadurch sinken, dass Lohneinkommen verloren geht. Die Milchmädchenrechnung, dass die Konsumnachfrage bei global steigender Produktivität mit gleichzeitigem Arbeitskräfteabbau erhalten bleiben oder sogar steigen soll, bekommt niemand glattgestellt. Was als Lohneinkommen verloren geht, taucht als Kapitaleinkommen wieder auf und geht damit zum Teil der Konsumnachfrage verloren. Ohne Nachfragezuwachs macht es wenig Sinn, die am Lohn eingesparten Beträge investiv zu verausgaben. Soweit sie nicht abgeschöpft werden, dürfte sich die Tendenz verstärken, sie außerhalb der Realwirtschaft unterzubringen.
Deutschlands gegenwärtige Lösung besteht in einer Mischung daraus, die Auslandsnachfrage durch Kredite künstlich anzukurbeln, zugleich hochproduktiv im Ausland in den Wettbewerb zu gehen, hier und dort die einheimische Wirtschaft zu subventionieren und die Binnennachfrage durch Umverteilung zu beleben. Das führt in Deutschland zu Vollbeschäftigung. Der Mythos vom Lohn für Arbeit lässt sich also noch eine Weile weitererzählen.
Anmerkungen:
43 Und deshalb eignet sich die Besteuerung des Arbeitslohns nicht wirklich zu einer lückenlosen Besteuerung der Produktivität. Produktivität müsste durch die Besteuerung des Konsums aller Dienstleistungen und Produktionsergebnisse, also durch Mehrwertsteuer besteuert werden und z.B. nicht durch eine mysteriöse Steuer auf Roboter oder Mikrochips, so als bezögen diese Gehalt.
44 Man hängt also in der Tat der Fiktion an, die Landwirtschaft würde enden, wenn der letzte Bauer vom Traktor steigt.
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